Eine knallharte Kindheit in Chur, ein Leben als Schriftsteller. Wortfeger begegnete Philipp Gurt telefonisch und in seinem Buch «Schattenkind».
Das ist keine normale Buchrezension, nein.
Er habe eine Frage zu einem Buch, welches in meinem Antiquariat gelistet sei.
Mit einer Sprachnachricht begann meine Begegnung mit dem Bündner Schattenkind Philipp Gurt.
Onlinebestellung und Vorauskasse – im Normalfall bin ich knallhart, was die Lieferbedingungen meiner antiquarischen Bücher betrifft. Zu übel waren meine Erfahrungen im Onlinegeschäft.
Bündner Autor sei er und brauche dieses alte Buch für seine Recherchen. Der sprudelnde, fröhliche Wasserfall am anderen Ende der Telefonverbindung hatte etwas und das lag nicht nur am sympathischen Bündner Dialekt. Nach dem Gespräch googelte ich Philipp Gurt. Ein ungewöhnlicher Gedanke flackerte auf und ich folgte ihm. Fünf Minuten später schrieb ich Philipp Gurt anstatt die Zahlungsdaten für die Vorauskasse eine Mail mit einem besonderen Deal: Buch für Buch!
Philipp Gurt freute sich über meine Idee und war bereit, seine Autobiographie «Schattenkind – Wie ich als Kind überlebt habe» zu signieren und mir zu senden. Dafür flog das Gebrauchtbuch zu ihm ins Bündnerland. Deal.
Wie staunte ich, als ich im Päckli nicht nur «Schattenkind» fand, sondern auch noch die Fortsetzung «Blätterflüstern – Mein Weg zurück ins Leben». Unser Deal platzte aus allen Nähten. Was für eine herzliche Überraschung!
Wie während des Telefonats schon erahnt, sprudeln die Worte auch im Buch und zeugen von einem sehr wachen, oft wohl auch getriebenen Geist. Als «verbal inkontinent» bezeichnet sich Philipp Gurt auf Seite 300 selbst. Als zweitjüngstes von acht Kindern erlebte er, wie seine Familie als «Vagantensippe» aufgesplittet wurde. «Wir waren acht lebensfrohe, robuste Kinder, aber mit Eltern, die keine waren.»
Seine Mutter war weg, der Vater ertränkte Traurigkeit, Verlust und Sehnsüchte im Alkohol, die acht Kinder lebten getrennt voneinander in Heimen und anderen Institutionen. Zu der erbarmungslosen Hackordnung der Heimkinder wollte das lose Mundwerk von Philipp einfach nicht passen, was ihm öfter Prügel einbrachte.
Der Schreibstil bleibt locker-flockig, auch in schockierenden Schilderungen. Körperliche Gewalt und psychischer Schmerz ziehen sich durchs Buch. Noch heftiger sind die Szenen sexuellen Missbrauchs. Als Frau fragte ich mich unweigerlich: Wie ist so etwas möglich? Eine erwachsene Frau vergreift sich sexuell an einem Bub? Nein, da will und kann ich mich nicht hineinfühlen. Ich konnte es kaum glauben, schwer zu ertragen, sogar mit der gewissen Distanz einer Lesenden. So war ich froh, als Philipp Gurt die Schauplätze wechselte.
In Schattenkind erzählt einer, dem schon früh klar war: «Der Einzige, der auf mich achtgeben und für mich kämpfen würde – das war und blieb ich!» (S. 209)
Etwa 170 Seiten später spürte der jugendliche Philipp selbst, was seine Vergangenheit aus ihm machte: «Alles an mir verriet, dass mein Sein ein einziger Scherbenhaufen war, in dem ich mich suchte.»
Ja, der Schmerz ist da und gut zu spüren, auch beim Lesen mit Empathie. Doch durch das Buch zieht sich auch ein Wille von «Ich gehe meinen Weg!». Den ging Philipp Gurt mit seinen unzähligen Fluchten aus den Institutionen zurück in die trostlose Heimat Chur, an den Tisch in irgendeiner Beiz zu seinem fast bewusstlos betrunkenen Vater. Und heute geht er seinen Weg auch als Familienvater und Schriftsteller.
Wie genau er bei allem Elend die Gratwanderung meisterte, zwischen allen Suchtverlockungen harter Drogen und des Alkohols vorbei, das ist sehr bewundernswert. Ein wahrer Kristall aus den Bündner Bergen, der vom Leben erbarmungslos geschliffen wurde, der aber seine Wärme bis heute in sich trägt.
Danke, Philipp Gurt, hatten Sie den Mut, dieses Buch so gnadenlos und doch so sprudelnd lebendig zu schreiben und auf diesem Weg Ihre Geschichte voller Vertrauen mit der Leserschaft zu teilen.
Alle seine Bücher stellt der Autor auf seiner Website vor: https://philipp-gurt.ch
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