1. Kapitel aus dem Buch von Meinrad Lienert, neu herausgegeben von Tanja Alexa Holzer, Wortfeger Media
An einem wundervollen Hochsommermorgen hockte auf dem steinernen Umlauf des altehrwürdigen Dorfbrunnens zu Schwyz ein Knabe, namens Hansjörli.
Eben liess die Sonne ihre goldenen Falltreppen und Strickleitern an den beiden Mythen herunter gleiten und irgendwo aus einer waldigen Weid ob den bäuerlichen Herrensitzen, die sich allerwärts ums Dorf zogen, schwang sich ein Jauchzen über die obstgesegnete weite Talschaft hin.
Aber der Knabe hatte heute keine Augen für seine zwei alten Hakenberge. Mit grosser Aufmerksamkeit und leuchtenden Augen schaute er auf einen alten Kapuziner, der bei ihm am Brunnen stand. «Also denn, Hansjörli», redete der Greis, «so wag’s in Gottes Namen mit deiner Ferienreise durch unser liebes Schweizerland. Wenn du standhaft bist und brav, musst du irgendwo und irgendwie das Zauberwort vernehmen, von dem ich dir erzählt habe, dass mir geträumt hat, es warte auf dich und uns alle, als das Wort, das unser Land, ja die Welt, aus ihren Nöten aufrichten und die Leute und Völker und alles, was da krankt und kränkelt an Leib und Seele, gesund machen könnte. Du wirst nun die traute Heimat auf deinem Rad in verschiedenen Richtungen durchfahren und etwa in acht Tagen wieder hier in deinem Dorf zurück sein. Ich habe dir alles auf deiner Karte genau aufgezeichnet und aufgeschrieben. O wenn du doch das Zauberwort heimbrächtest! Ich möchte es uns und der ganzen Menschheit von Herzen gönnen. Und dann wirst du mir auch erzählen, wo du überall durchgekommen bist und was dir alles begegnet ist. Aber glaube ja nicht», machte der Kapuziner ernsthaft werdend und seinen weissen Bart streichend, «dass dir alles so glatt abläuft. Nämlich, wie mir ebenfalls geträumt hat, wird der böse Feind, der alles Gute hintertreiben oder gar verderben will, Bossnickelchen, einen seiner kleinen abgefeimtesten Kobolde hinter dir herschicken. Und der wird alles versuchen, und unter allerlei Gestalt, dir diese Reise zu verleiden und die frohe Botschaft des Zauberwortes zu verunmöglichen. So sei denn wachsam und nun fahr mit Gott und Glück ab!»
Da jubelte der Knabe auf. Er sprang vom Brunnen und setzte sich blitzgeschwind aufs Velo. «Auf Wiedersehen, Vetter Kapuziner!», rief er aus und im Hui war er verschwunden.
Der Alte aber rückte schmunzelnd sein Samtkäpplein auf dem mächtigen weissen Haupt und schritt dann, gefolgt von einigen Kindern, die ihre Puppen im Arm trugen, zur Kirche hinauf, deren Morgenglocken eben übers Dorf und gegen den dunkellachten Urmiberg hinunter gingen, wo sie die letzten grimmig blickenden Schatten völlig verscheuchten ...
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